Theatertherapie
 Ein Gastkommentar von Ricarda Petersen, Sturmfreie Bühne, Röbel / Müritz

 

Die Welt als Bühne des Lebens - Theater als Therapie

In meinem Berufsfeld der Theatertherapie wird häufig die Frage gestellt, „Wozu das Theater?“ oder „Was soll das Theater?“ Verständlicherweise ist eine sinnvolle Verknüpfung von Leben und Theaterspielen gefragt.

Mach kein Theater!

ist ein mit leichter Schärfe oder gereiztem Ton versehener Ausspruch, der seinen Weg bereits in Generationen von Kinderohren gefunden hat und nicht selten ein mittelschweres Zusammenzucken, Erstarren oder Gegenhalten der angesprochenen Jungakteure erzeugte. Damit war, wie jeder weiß, nicht eine Warnung vor einer Schauspielkarriere ausgesprochen, sondern der Versuch gemacht, einer mit ausdrucksstarken Gefühlsaufwand begleiteten gegenwärtigen Alltagssituation Einhalt zu gebieten. Ob dieser Versuch tatsächlich mit Erfolg gekrönt wurde und wird, bleibt zweifelhaft, da sich zwar von Außenstehenden, wie Eltern, Lehrern, Freunden, der Gefühlsausdruck aber selten die Gefühle selbst zwingen lassen.

Außerdem wurde mit dem Spruch „Mach kein Theater“ der gängigen Meinung Rechnung getragen, sich nicht in den Vordergrund spielen zu dürfen und schon gar nicht in übertriebener Form. Ich fordere mit Vorliebe dazu auf, Theater zu machen. Besonders auf der Bühne...  mit Zuschauern!!! Groß zu agieren, Gefühle aufleben zu lassen, die sonst versteckt gehalten werden und sowohl die Gefühle wie sich selbst sehr sichtbar zu machen vor anderen – um sich wieder schrittweise mehr und mehr komplett und lebendig zu fühlen.

Gefühle und Begegnung - Bewusst oder Unbewusst?

In der Einleitung zeigen sich bereits die ersten Verbindungen: Auf beiden, auf der Lebensbühne wie auf der Theaterbühne, gehen Menschen miteinander um und zwischen diesen walten Gefühle, große, kleine, zarte, gewaltige, bewegte und manchmal auch keine. Es finden Begegnungen statt, Handlungen vollziehen sich, deren Beweggründe offensichtlich, nachvollziehbar, geheimnisvoll oder unergründlich sind.

Nun , das Geschehen auf der Bühne wird von Zuschauenden verfolgt, die zu ergründen oder verstehen suchen, was sich dort vor (oder neben oder hinter) ihnen abspielt. Der Zuschauer bringt das gesehene und miterlebte Schauspiel mit eigenen Vorstellungen, Gefühlen, Erfahrungen und Ideen bzw. Idealen in Zusammenhang, womit per se eine Verknüpfung von Bühne und Leben stattfindet.

Das Beobachten, Verstehen und Vollziehen oder sogar das Erschaffen logischer Zusammenhänge geschieht auch auf der Lebensbühne aber erst dann, wenn sich beteiligte Akteure in einen gewissen Abstand zu ihrem Erlebten begeben, von wo eine bewusste Reflektion, ein sich selbst „Zuschauen“ vonstatten gehen kann. Mir stellt sich damit die spannende Frage nach Bewusstheit und Beeinflussbarkeit  des Geschehens und der eigenen Handlungen von Seiten der Akteure, sowohl auf der Theater- als auch auf der Lebensbühne.

Ein Schauspieler ist sich seiner Handlungen und Gefühlsregungen der nächsten ca. 90 Minuten sehr bewusst. Er kann übersehen, was ihn erwartet, wie er und ebenso seine Mitspieler agieren und reagieren werden – er hat es oft geprobt – und ist dafür eigens durch unzählige Ausdrucksmöglichkeiten gewandelt. Er hat Wege gesucht, viel experimentiert, er hat sein Gefühls-, Gesten- und Sprachrepertoire erkundet und erweitert bis er oder die Regisseurin sich in Einverständnis befanden – vielleicht mit einem ganz anderem Ergebnis als es vordem beabsichtigt war. Der Schauspieler hat sie sich seinen Ausdruck im Freiraum der Bühne erspielt, entdeckt, hat immer wieder sich selbst überrascht: Hingebungsvoll im unkontrollierbaren Spiel und zugleich selbstbestimmt.

Hat nun der Akteur der alltäglichen Lebensbühne die Absicht, bewusst und selbstbestimmt mit seinen Lebensabläufen umzugehen, - und ich glaube, einige haben dieses Bestreben – so wird er auch unterschiedlichste Spielarten des Umgangs mit Gefühlen, Gedanken  und Handlungen in seinem Leben durchlaufen und ausprobieren. Was ermöglicht ihm das?

Spielräume - Freiräume - Wahlfreiheit

Dieses setzt meiner Meinung nach voraus, dass der Mensch sich selbst diesen Spielraum einräumt, seine Aktionen und Reaktion en des Alltags auch experimentell zu betrachten, um darin Freiräume für sich zu erkennen, Handlungs- und Reaktionsspielräume. Und es gehört, wie oben erwähnt, die Fähigkeit dazu, sich immer wieder von sich selbst distanzieren, also sich selbst zuschauen zu können. Wie verhält es sich nun mit dem Rollenspektrum von Alltags- und Bühnenakteuren?

Der Schauspieler verfügt im besten Fall sowohl über erlernte Techniken und Methoden als auch über einen reflektierten Schatz an Selbsterfahrung, was ihn befähigt, verschiedene Rollen oft ohne große Schwierigkeiten einzunehmen, zu tauschen und wieder zu verlassen. Und wie steht es mit meinen Rollen im Alltag auf den unterschiedlichsten Bühnen, sei es mit Kollegen oder Freunden, in der Partner- oder Geschäftsbeziehung?

Wie frei und selbstbestimmt ich in meinen Rollen bin, mag mit den oben genannten Faktoren zusammenhängen. Bin ich bereit, auch im Alltäglichen ein selbstreflektiertes, fühlendes. mich wandelndes Leben zu führen? Kann ich akzeptieren, dass das Leben ständige Veränderung ein ständiges mich Verwandeln bedeutet. Kann ich alte Vorstellungen eines mich selbst beschränkenden Selbstbildes aufgeben und in die Widersprüchlichkeit des Lebens eintauchen? Erlaube ich mir, immer wieder mal Distanz von mir nehmen – z.B. durch Reisen, in der Meditation, durch Gespräche, Nachdenken, Beobachten, Loslassen – Ja, auch Mithilfe von Begleitern (therapeut = griech.: Begleiter) und des Theaterspielens.

Der Widerspruch von Selbstbestimmung und Unkontrollierbarkeit ist Lebendigkeit

Bei aller Selbstbestimmung macht doch das Lebendige des Lebens aus, dass Folgen und Ergebnisse unserer selbstbestimmten Gefühle und Handlungen wohl einschätzbar, aber nicht vollkommen kontrollierbar und kalkulierbar sind, mal ganz abgesehen von den Reaktionen der Mitmenschen. Welch Freude aber, wenn die Wahlfreiheit besteht, sich mit bekannten und vertrauten Facetten des Selbst zu identifizieren und ihnen gemäß in die Welt zu treten oder sich zu distanzieren und neue Denk-. Gefühls- und Handlungswege zu beschreiten. Ich glaube an diese Möglichkeit der zunehmenden Selbstbestimmung und immer mehr zum Regisseur meines eigenen Lebens werden zu können, das mir erlaubt, meine Lebenserfahrungen und mich selbst als Experiment zu sehen.

Auf der Theaterbühne muss sich der professionelle Schauspieler während einer zehnten  Aufführung desselben Stückes stets neu auf festgesetzte Spielabläufe einlassen. Er erschafft sich genau in dem Moment des Spielens in seiner eigentlich vertrauten Rolle neu. Er begibt sich ganz und gar in die Gegenwart. Das bedeutet, dass keine Aufführung der anderen gleicht – auch für ihn nicht – denn Gefühlsvarianten, Interaktionen und Beziehungen bei gleicher Rahmenhandlung erzeugen konstant unterschiedliche Spannungsmomente. Also befindet auch er sich in einem kontinuierlichen Selbst-Experiment.

Unterschiede von Leben und Bühne

Ich möchte natürlich am liebsten jeden Menschen auffordern, mal den Theaterraum als Spielender zu betreten, da auch erhebliche Unterschiede zwischen der Theater- und Lebensbühne existieren, die nützlich sind. Einer dieser Unterschiede ist der Zeitfaktor. Was im Alltagsleben an Wandlung und Wachstumsprozessen oft Monate und Jahre beansprucht, ist auf der Bühne in wenigen Wochen, oft Stunden (wenn auch vorübergehend) erlebbar und durchführbar. Zudem bietet die Bühne einen besonderen Schutzraum, sich auszuprobieren, sich weiter kennen zu lernen und neu zu entwerfen. Mögliche Konsequenzen im Spiel sind meist ungefährlich. Gerade gefürchtete oder schon sehnlichst erwünschte Rollenerfahrungen können im Jetzt gemacht werden und sich entsprechend befreiend auf das Alltagsleben auswirken.

Es ist doch das Spiel, in dem größtmögliche Freiheit erfahren werden kann. Es ist die Grundnahrung der menschlichen Seele. 

Also: Mach bloß Theater!

Ergänzende Aspekte lesen Sie in der Facharbeit "Theater als Therapie" von Michele Suhlmann.
(PDF-Datei, 157 kb)

 


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